Die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum in der Antike war nicht zuletzt auch eine exegetische: Anknüpfungen und Abgrenzungen wurden anhand des Umgangs mit den biblischen Schriften vorgenommen, entfaltet, diskutiert. Es liegt daher nahe, die in jüngster Zeit erneut intensiv diskutierte Frage nach «shared worlds» und «parting of the ways» von Judentum und Christentum auch im Blick auf Exegese und Rezeption der Bibel in Antike und frühem Mittelalter zu stellen. Wir möchten die Frage nach Anknüpfungen, Abgrenzungen und Wechselwirkungen anhand eines überschaubaren, in der bisherigen Forschung wenig behandelten, aber nach ersten Erkenntnissen sehr vielversprechenden Beispiels tun: der Samuel-Figur. Der Fokus liegt dabei explizit auf der Rezeption der Samuel-Figur (und nicht der besser erforschten, nach Samuel benannten biblischen Bücher), weil an ihr verschiedene Fragen verhandelt werden, die Aufschluss über die Rezipientenkreise, ihre Lebenswelten und Interaktionen geben.
Die Liminalität und Vielschichtigkeit der Samuelfigur luden zu mannigfaltigen Rezeptionspisten ein. In beiden Traditionen wird Samuel eine zentrale Bedeutung zugesprochen. In vielen Einzelheiten lassen sich parallele Diskussionen über Inhalte, Ähnlichkeiten in der Methodik der Schriftauslegung und Parallelen in der Funktion bestimmter Diskurse beobachten. Jüdische wie christliche Texte verhandeln an der Samuelfigur vielfältige lebenspraktische Fragen und beantworten sie vielfach auf ähnliche Weise. Juden wie Christen wurde Samuel von ihren theologischen Autoritäten als Vorbild für ein gottgefälliges Leben präsentiert. Andererseits weist die christliche Deutung Samuels spätestens seit dem 5. Jahrhundert antijüdische Wendungen auf. Anknüpfungen, Abgrenzungen und Wechselwirkungen in der Bibelrezeption zwischen Juden und Christen lassen sich an der Samuelfigur sehr umfassend studieren.
Das Forschungsprojekt ist in doppelter Hinsicht komparativ angelegt. In je zwei Dissertationen sollen die jüdische und die christliche Samuelrezeption zunächst für sich untersucht und religionsintern verglichen werden: für das Judentum die griechisch bzw. teils auch lateinischsprachige jüdisch-hellenistische und die hebräische rabbinische Rezeption; für das Christentum die griechische und die lateinische Rezeption der Samuelfigur. Auf einer zweiten Vergleichsebene werden jüdische und christliche Rezeptionen der Samuelfigur anhand besonders aussagekräftiger Themen miteinander verglichen. Auf diese Weise kommen nicht nur religiöse, sondern auch sprachlich-kulturelle und geographische Anknüpfungen, Abgrenzungen und Abhängigkeiten komparativ in den Blick. Die Ergebnisse dieses Vergleichs werden auf Workshops und Tagungen mit einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert und in Aufsätzen der Projektleitenden publiziert.
Das Projekt bietet (1) eine erstmalige systematische Erforschung der Bedeutung der Samuel-Figur in Judentum und Christentum; (2) Erkenntnisse zu gemeinsamen bzw. konvergierenden Rezeptionslinien, die gemeinsame wie auch getrennte Lebens- und Denkwelten von Jüdinnen und Christinnen in Spätantike und frühem Mittelalter reflektieren; (3) Einsichten in die bibelhermeneutischen Grundlagen des christlich-theologischen Antijudaismus und von jüdischen Abgrenzungen gegen das Christentum; (4) Erkenntnisse über sprachlich-kulturelle Demarkationen innerhalb der beiden Religionsgemeinschaften sowie zu die Religionsgrenzen überschreitenden Interaktionen und damit über das Verhältnis von Kultur und Religion.
Die doppelte Vergleichsperspektive verspricht neue Einsichten sowohl in die jeweilige sprachlich-kulturelle Polyphonie innerhalb von Judentum und Christentum als auch zu Interaktionen dieser beiden Rezeptions- und Religionstraditionen in einer wichtigen Phase ihrer Formation in gegenseitiger Beeinflussung und Abgrenzung. In seiner doppelt komparativen Anlage hat das Projekt das Potential, methodologisch auch für weitere Untersuchungen zur jüdischen und christlichen Rezeption biblischer Figuren und für die Frage nach «shared worlds» und «parting of the ways» von Nutzen zu sein.